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Musik stellt entscheidende Weichen
Glückliche Fügungen spielen eine Rolle, dass aus einem Bahnbeamten-Sohn der Friedberger Künstler Karl Müller-Liedeck wird.
06.11.2015
Auch dass Karl Müller-Liedeck seine Frau Regina kennenlernte, hängt mit Musik zusammen. Foto: Ulrike Niederzoll
Zum 100. Geburtstag von Karl Müller-Liedeck (1915-2009) rückte er mit „Klangbildern“ wieder ins Bewusstsein der Friedberger. Die mittlerweile beendete Sonderausstellung in der Archivgalerie bot dem unbefangenen Betrachter keine einfache Kost. So waren Mitglieder des Heimatvereins dankbar, dass die Tochter des Künstlers, Ulrike Niederzoll, selbst Heimatvereinsmitglied, ihnen eigens ausführlich die Werke ihres Vaters erklärte. Auch sie musste sich einarbeiten in den mythischen und naturwissenschaftlichen Hintergrund, mit dem sich ihr Vater gründlich auseinandergesetzt hatte.
Zur Kunst gelangte ihr Vater über die Musik. Um genau zu sein, waren es seine hohe Musikalität und sein herrlicher Tenor, die für die einzigartige Weichenstellung in seinem Leben sorgten. Sie sollten ihm, der nie eine akademische Ausbildung genießen konnte, den Weg ebnen zu einer Zukunft als freischaffender Künstler.
Es begann an einem Sonntagmorgen, als der junge Karl Müller beschloss, von seinem Quartier im oberbayerischen Kolbermoor, wohin er zum Reichsarbeitsdienst eingezogen worden war, zum Samerberg zu radeln. Dieser Höhenrücken, der sich parallel zur Voralpenkette vom Inntal bis zum Aschauer Tal hinzieht, ist von Kolbermoor aus gut zu sehen. Der „Aufstieg“ erfolgte von Achenmühle aus hinauf zu dem kleinen Dorf Törwang. Dort hörte er Orgelklänge aus der Kirche. Er ging hinein. Oben auf der Empore sang der Kirchenchor. Kurzentschlossen stieg er die Treppe zur Empore hinauf und stimmte einfach in den Chorgesang mit ein. Seine schöne Tenorstimme gefiel dem Organisten Sepp Stuffer außerordentlich, aber mehr noch bezauberte sie dessen Schwester Regina, die im Chor mitsang.
Das jung verliebte Paar hätte zu gern geheiratet. Doch der Kriegsausbruch hielt sie von einem solchen Schritt ab, da man ja nicht wissen konnte, ob er jemals wiederkehren würde.
Als Gefechtszeichner und Kradmelder musste Karl Müller im Krieg mit dem Motorrad Außenstellungen erkunden. Mehrmals wurde er dabei verwundet, erlitt auch einen sehr schweren Motorradunfall, der ihn im späteren Leben veranlasste, nie mehr ein Fahrzeug zu führen. Er erlebte das Grauen von Stalingrad und kam wegen eines Beindurchschusses gerade noch mit dem letzten Transport heraus. Schließlich geriet er in russische Gefangenschaft. So schrecklich für ihn sein Hungerödem und seine Lungenentzündung waren, so waren die schweren Erkrankungen letztendlich sein Glück. Man entließ ihn wegen seines schlimmen Gesundheitszustands vorzeitig aus russischer Kriegsgefangenschaft in die Heimat. Mit ihm wanderten auch die Rilke- und Hessegedichtbändchen nach Hause. Sie hatten ihn den Krieg hindurch in seinem Tornister begleitet.
So kehrte er 1945 nach Friedberg zu seiner Stiefmutter in der Geistbeckstraße 26 zurück. Der Vater war bereits 1939 gestorben, gerade als Karl seine erste Feuertaufe in Polen erleben musste. Vater Ludwig Müller, ein gebürtiger Dasinger, war Bahnbeamter bei der Reichsbahn. Als Sohn Karl als jüngstes von 12 Kindern am 9. Oktober 1915 im niederbayerischen Mauern zur Welt kam, lebte die Familie im dortigen Bahnhofsgebäude. Nur 5 Jahre war der Bub alt, als seine Mutter starb. Nach mehreren Versetzungen landete der Vater, der wieder geheiratet hatte, 1924 mit seiner Familie in Schrobenhausen.
Im Ruhestand zog Ludwig Müller 1932 nach Friedberg. Der jüngste Sohn Karl zog mit. Man wohnte zunächst in der Schlossstraße; Ludwig Müller kaufte im gleichen Jahr das Haus Geistbeckstraße 26 an der Ecke zum Bahndamm. Es wurde viel musiziert und gesungen. Bald wurde dieses Eckhaus nur noch „Liedeck (Lied-Eck)“ genannt. Das Gymnasium hatte er vor dem Umzug mit mittlerem Schulabschluss in Neuburg an der Donau beendet und erhielt nun in Augsburg eine Lehrstelle als technischer Zeichner bei der Heizungsbaufirma Haag.
Während des Krieges und danach stand er brieflich stets in Kontakt mit seiner Freundin Regina Stuffer. Diese hatte die schwere Aufgabe, den elterlichen Hof am Samerberg eigenständig zu führen, während ihre Brüder im Krieg waren.
1947 konnten sie endlich in Herrgottsruh in Friedberg heiraten, und Karl zog zu seiner Frau Regina auf den Samerberg. Dort konnte er sich, obwohl er auf dem Hof mitarbeitete, gut erholen. Nebenbei ging er seiner Leidenschaft nach: Er malte und zeichnete.
So blieb es nicht aus, dass er Kontakt zu dem seit 1932 in Törwang lebenden Münchner Akademieprofessor Constantin Gerhardinger fand. Stand Gerhardinger in der Zeit des Nationalsozialismus zunächst in hoher Gunst, so änderte sich dies schlagartig, als er sich 1943 mit Hitler überwarf. Er hatte sich entschlossen, seine Bilder wegen der drohenden Bombardierung nicht mehr für Ausstellungen zur Verfügung zu stellen. Diese Schwarzseherei wurde ihm heimgezahlt durch das Verbot weiter zu unterrichten.
Nach dem Krieg erwies es sich als Glücksfall, dass dieser Professor der Lehrmeister von Karl Müller wurde. Zu gerne hätte der eine Akademie besucht, aber Gerhardinger verwarf diesen Gedanken: „Da brauchst gar net hingehen, die verderben dich bloß“. Zudem wäre eine solche Ausbildung ein finanzielles Problem gewesen.
Daneben gab es noch einen zweiten hervorragenden Lehrer, bei dem Karl eine fundierte maltechnische Ausbildung erhielt. Der freischaffende Künstler Johannes Schmid, geb. 1895 als Sohn eines Lehrers, lebte seit 1937 in Rom. 1943 musste er als Deutscher Italien verlassen. Nun wohnte er in Schilding, einem kleinen Dorf auf dem Samerberg und nannte sich seither Schmid-Schilding. Er hatte vor dem Ersten Weltkrieg an der Münchner Kunstgewerbeschule studiert, erlebte den Krieg als junger Soldat und begann 1919 an der Münchner Kunstakademie bei Prof. Hermann Groeber und Franz von Stuck, mit dem er bis zu dessen Tod 1928 freundschaftlich verbunden blieb, zu studieren. Als freischaffender Künstler unternahm er nach 1928 Studienreisen mit Aufenthalten in Berlin und Leipzig, bis er sich entschloss nach Rom zu ziehen. Seine Werke wurden in München, Berlin, Reval und Rom ausgestellt.
Dieser Maler förderte Karl Müller künstlerisch zwischen 1947 und 1957 enorm und bestärkte ihn in seinem Wunsch, ein freischaffender Künstler zu werden. Diesen Weg schlug Karl tatsächlich ein. Um seinen Nachnamen Müller für seine Ausstellungen in München und Rosenheim, aber auch für die Zukunft einzigartig zu machen, legte er sich den Künstlernamen Müller-Liedeck zu.
Neben diesen beiden Lehrmeistern gehörten zur Künstlergruppe auf dem Samerberg u.a. auch noch das Geschwisterpaar Fritz, er war Maler und sie Musikerin, sowie die vielseitige Malerin und Bildhauerin Elisabeth Kronseder mit Familie.
Erste Erfolge stellten sich ein bei den Ausstellungen in München im Haus der Kunst und der Münchner Künstlervereinigung mit naturalistischen Chiemgaulandschaften und Blumenbildern in Aquarell oder altmeisterlicher Mischtechnik.
1958 zog die Familie nach Friedberg in das „Liedeck“-Haus. Er bekam vornehmlich Aufträge von der Kirche, der Stadt und dem Landkreis Friedberg . So schuf Müller-Liedeck für die Stadtpfarrkirche die Bilder des auch einst in Friedberg weilenden Jesuiten Canisius und der heiligen Afra, das Ulrichsbild im Haus St. Ulrich in Augsburg, das Marterl des heiligen Tobias zwischen Friedberg und Wulfertshausen und den Kreuzweg in der Krankenhauskapelle in Friedberg. In Herrgottsruh bewerkstelligte er die Restaurierung der Votivtafeln. Für die Friedberger Schulen schuf er Bildtafeln zur Geschichte der Stadt und Blumenbilder. Er bemalte für Privatleute Möbel, Türen oder Cembali, erhielt auch Themenaufträge wie Blumenbilder. Am Samerberg verzierte er Häuser mit seiner Lüftmalerei.
Mit diesen öffentlichen Aufträgen erfolgte ein Umschwung in seinem künstlerischen Schaffen. Er nahm Abstand von realistischen Darstellungen. Es entstanden stilisierte Figurenbilder mit einer Hinwendung zum Mythologischen und Symbolhaften, mit Themen aus Naturwissenschaft, Literatur und Musik.
Ausstellungen nicht nur in Friedberg sondern auch in Augsburg, München, Bonn, Mainz, Berlin, Straßburg, Nancy, Paris und London stellten die Krönung seines Schaffens dar. Den Abschluss seines Künstlerlebens bildete eine Gesamtwerkschau im Wittelsbacher Schloss in Friedebrg 2005.
Als gegen Ende seines Lebens die Kräfte nachließen, zog er zu seiner Tochter Ulrike nach Augsburg. Ihn, der gerne in seinen Bildern dem Chaos Ordnung und Harmonie gegenüberstellte, ereilte im Alter verstärkt das schreckliche Chaos des Krieges in seinen Erinnerungen. Aber auch hier setzte der tief religiöse Karl Müller-Liedeck sein Vertrauen darauf entgegen, einmal die letztendliche Wirklichkeit schauen zu dürfen: „das wunderbar göttliche All.“ Karl Müller-Liedeck starb am 17. Februar 2009 in Augsburg.
Regine Nägele, © Friedberger Allgemeine
Verlinkt zur Veranstaltung: Besuch der Ausstellung "Klangwelten" des Künstlers Karl Mülller-Liedeck (20.09.2015, 14:30 Uhr)